- Pyramiden: Stein und Staat
- Pyramiden: Stein und StaatKeine andere Kulturleistung der alten Ägypter hat die Nachwelt mehr beeindruckt als der Bau der Pyramiden. Unter die Sieben Weltwunder der Antike eingereiht, haben sie seit dem Mittelalter gleichermaßen die Fantasie der arabischen Historiographen beflügelt und - beginnend mit den Kreuzrittern - das Interesse der frühen Ägyptenreisenden geweckt. In den Mosaiken in San Marco in Venedig erscheinen die Pyramiden im Kontext der Josephsgeschichte als die Kornkammern Pharaos; in die Symbolik des Freimaurertums - und das Design der Ein-Dollar-Scheine - finden sie als Inbegriff verschlüsselter Weisheit Eingang, und in unseren Tagen erleben sie eine unerwartete Renaissance als Grundform postmoderner Architektur.Die bei der Errichtung der Pyramiden erbrachte Bauleistung fordert auch vom modernen, an Superlative gewöhnten Betrachter allen Respekt. Für die größte der Pyramiden Ägyptens, die um 2500 v. Chr. errichtete Cheopspyramide in Giseh, wurden etwa zwei Millionen Kubikmeter Stein verbaut. Während ein großer Teil des Kernmaterials in nahe gelegenen Steinbrüchen des felsigen Wüstenplateaus von Giseh gewonnen wurde, kamen die Verkleidungsblöcke aus dichtem Kalkstein von teils weit entfernten Brüchen, und die bis zu 40 Tonnen schweren Granitblöcke, aus denen sich die Grabkammer im Inneren der Cheopspyramide zusammensetzt, mussten von den Steinbrüchen in Assuan am ersten Katarakt bis zur Baustelle einen Weg von 800 Kilometern zurücklegen.Bauplanung und Logistik des Materialtransports und der Bauausführung setzten eine differenzierte Verwaltung mit klaren Hierarchien voraus. Wenn man die vermutliche Regierungszeit des Erbauers der größten Pyramide, des Königs Cheops, mit knapp zwanzig Jahren ansetzen kann und davon ausgehen muss, dass in diesen zwei Jahrzehnten die Pyramidenanlage fertig gestellt wurde, dann müssen etwa 20 000 Arbeiter auf der Großbaustelle im Einsatz gewesen sein - etwa ein Prozent der Gesamtbevölkerung Ägyptens. Zwar sind schon im Alten Reich Gefangene von den Feldzügen nach Nubien mitgebracht worden, um als Zwangsarbeiter eingesetzt zu werden; das Gros der Arbeitskräfte kam aber zweifellos aus Ägypten selbst, aus einer primär in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerung, die jedoch mehrere Monate des Jahres während der Überschwemmungszeit weitgehend beschäftigungslos war, sodass sie für staatliche Großprojekte eingesetzt werden konnte. Die Motivation dieser Arbeitskräfte lag sicherlich auch darin, sich in den Dienst einer staatstragenden Aufgabe zu stellen, der Verherrlichung des Königs. Er setzte sich in seiner Pyramide zu Lebzeiten ein Denkmal, das ihm nach seinem Tod den Aufstieg aus der Welt der Sterblichen in den Himmel der Götter erlauben sollte. In den Pyramidentexten, die seit etwa 2300 v. Chr. in Hieroglyphen auf die Wände der unterirdischen Räume der Königspyramiden gemeißelt wurden, deren religiöse und literarische Tradition jedoch zweifellos älter ist, wird die Himmelfahrt des Königs als ein Aufstieg über eine Treppe oder Rampe beschrieben. Der König, in seinem Amt den Menschen übergeordnet und den Göttern nah, wird im Tod zu einem Gott verklärt, und zumindest indirekt haben all die, die ihm nahe sind, an dieser Verklärung teil. Aus diesem Gedankenkreis erklärt sich das Anlegen der großen Friedhöfe rings um die Pyramiden. Sie sind nicht nur und wohl nicht zuallererst ein Spiegel der irdischen Nähe der dort Bestatteten zum König, sondern ein Ausdruck des Wunsches, am Himmelsaufstieg des Herrschers Anteil zu haben.Die Entwicklung der Bauform der Pyramide gehört zu den außergewöhnlichsten Erscheinungen der Kulturgeschichte. Im Verlauf von weniger als einhundert Jahren entstand aus den ersten Versuchen monumentaler Steinarchitektur das größte Bauwerk Ägyptens. In einem einzigartigen kreativen Schub, in einem explosionsartigen Aufbrechen schöpferischer Kräfte wandte sich die ägyptische Architektur vom Bauen in ungebrannten Ziegeln, Holz und Matten, einer Bautechnik, die seit der Mitte des 4. Jahrtausends v. Chr. üblich war, um 2650 v. Chr. dem Steinbau zu. Im ältesten Baukomplex, der ganz aus Stein errichtet wurde, der Stufenpyramide des Königs Djoser in Sakkara mit ihren umfangreichen Kultbauten und ihrer eineinhalb Kilometer langen Umfassungsmauer, ist die Bearbeitung von Tausenden von Kalksteinblöcken bereits von höchster handwerklicher Qualität. Dabei handelt es sich nicht nur um die Zurichtung einfacher Steinquader und glatter Oberflächen, sondern um die Gestaltung differenzierter Detailformen, da bereits in dieser ältesten Steinarchitektur ein Grundprinzip altägyptischen Bauens voll entwickelt und durchgeführt ist: Die Architekturelemente sind nicht dem Stein angemessene, materialgerechte, geometrisch klare Körper, sondern sie sind den natürlichen, historisch gewachsenen Formen des Bauens in pflanzlichen Materialien und in ungebrannten Ziegeln nachempfunden. Statt zylindrischer Säulen werden Stützen verwendet, die in Querschnitt und Oberflächengestaltung die Stängel von Papyruspflanzen oder Schilf nachahmen; an die Stelle glatter Steinoberflächen tritt die Nachahmung von Ziegelstrukturen und Holzkonstruktionen. Form und Format der Steinblöcke der Pyramide orientieren sich am Vorbild von luftgetrockneten Ziegeln aus ungebranntem Nilschlamm. Auch der Neigungswinkel der Außenflächen der Stufen bei der Djoserpyramide leitet sich aus der Ziegelarchitektur ab, die aus Stabilitätsgründen nicht mit senkrechten, sondern geböschten Mauern arbeitet.Wenn König Djoser als »Erfinder des Steinbaus« im Bewusstsein der alten Ägypter lebendig geblieben ist, wenn sein Architekt Imhotep, dessen authentische Signatur nahe der Stufenpyramide auf einer Statue entdeckt wurde, über Jahrtausende in einer ungebrochenen Traditionskette als Kulturheros gefeiert wurde, dann spricht daraus die epochale, weit über die Architekturgeschichte hinausgehende Bedeutung dieses schöpferischen Aktes. Die Geburt der Steinarchitektur in Sakkara ist der Eintritt Altägypytens in das Gedächtnis der Menschheit.Bereits eine Generation nach König Djoser ist aus der Stufenpyramide über rechteckiger Grundfläche die Pyramide mit glatten Außenwänden und quadratischem Grundriss geworden. König Snofru ließ sich als Grabmal zunächst eine steilwandige Pyramide errichten, deren Neigungswinkel in halber Höhe zurückgenommen wird, sodass die charakteristische Form der Knickpyramide von Dahschur-Süd entsteht. Aufgrund von Setzungen und Rissen im Pyramidenkörper wurde dieses Grabprojekt aufgegeben und durch die nördliche Pyramide von Dahschur mit flacherer Neigung ersetzt. Ein drittes Pyramidenprojekt fällt in dieselbe Regierungszeit, die Ummantelung der Stufenpyramide von Medum mit einer Kalksteinverkleidung, deren Neigungswinkel von 52º und Bautechnik in Horizontalschichten den Prototyp für die klassische Form der Pyramiden von Giseh bildet. All dies ereignete sich im Zeitraum einer Generation - eine Beschleunigung der kulturellen Evolution, die mit der technischen Revolution des 19. und 20. Jahrhunderts verglichen werden kann.Da die Tempelanlagen, die zum klassischen Dreigestirn der drei Pyramiden des Cheops, Chephren und Mykerinos in Giseh gehören, stark zerstört sind, gestatten erst die Pyramidenanlagen der Könige der 5. Dynastie, südlich von Giseh in Abusir gelegen, einen Einblick in den komplexen Organismus eines Königsgrabes des Alten Reiches. Die architektonische Struktur ist vierteilig.Vom Taltempel am Rand der Talebene führt der durch seine Seitenwände und die steinernen Deckenplatten wie ein dunkler Kanal wirkende Aufweg nach Westen hinauf auf die Wüstenebene zum Totentempel, hinter dem sich das eigentliche Königsgrab, die Pyramide mit ihrer unterirdischen Grabkammer, erhebt.Tausende Quadratmeter von bemalten Kalksteinreliefs bedeckten die Wände dieser Räume und Gänge; am Wandfuß die weiblichen und männlichen Personifikationen der fruchtbaren Äcker und des Nils; darüber die langen Reihen der Opferträger und der im Totenkult des Königs Tätigen; dann Götter, die dem König die Feinde des Reiches zuführen, Nubier, Libyer und die Bewohner Vorderasiens, ergänzt um die Darstellungen hungernder Beduinen; dazu die Bilder der ägyptischen Handelsflotte bei ihren Fahrten an der levantinischen Küste; auf den Decken der Tempelräume schließlich der gestirnte Himmel.Die kosmische Ordnung der Natur in Land, Fluss und Himmel, die innenpolitische Ordnung, dargestellt im Dienste des Landes für die Versorgung des toten Königs, und die außenpolitische Ordnung als Zusammenwirken des Königs und der Götter Ägyptens - das ist das Bildprogramm, in dem ein Weltbild konkretisiert wird. Mensch, König und Gott sind die drei Ebenen eines kosmischen Sozialgefüges, unabdingbar für den harmonischen Lauf der Welt, alle drei aufeinander angewiesen, keiner auf Dauer lebensfähig ohne den anderen.Was in der Ikonographie der königlichen Grabanlagen des Alten Reiches, in den Wandreliefs der Pyramidentempel in bildhafter Sprache aufgezeichnet ist, ist nicht weltfremde theologische Spekulation, sondern in Kult und Mythos gespiegelte Realität, die Realität eines Landes, das seine Ressourcen aus der ungewöhnlichen geoklimatischen Situation der Flussoase des Niltals bezieht, die Realität einer politischen Macht, die in ihrer Brückenfunktion zwischen Afrika und Vorderasien tonangebend ist, die Realität eines Staates, an dessen Spitze ein König steht, der sich in der Abhängigkeit der Götter weiß, ohne selbst göttlich zu sein.Als typisch königliche Grabform blieb die Pyramide im Mittleren Reich in Gebrauch und erlebte um 750 v. Chr. im Sudan eine bis 300 n. Chr. anhaltende Renaissance in den königlichen Nekropolen von Napata und Meroe.Prof. Dr. Dietrich Wildung
Universal-Lexikon. 2012.